Zeitgefühl im Mittelalter

Little_Tiger

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Heute sah ich eine Dokumentation auf der Arte-Mediathek über das Jahr 1000.

In dieser Dokumentation wurde in einen Nebensatz behauptet, dass den Menschen damals gar nicht bewusst war, dass sie im Jahr 1000 lebten und somit nicht die Symbolkraft dieser Jahreszahl kannten.


Stimmt diese Aussage???
 
Welche Doku war das? Eigentlich kann sich diese Aussage ja nur auf Christen beziehen, die den christlich adaptierten julianischen Kalender benutzten – nur für sie war es das Jahr 1000. Aber wenn es so ist, wäre das eine seltsame Behauptung. Vor 1000 n. Chr. herrschte aufgrund von Bibelstellen wie Offb 20,1 ff. in weiten Teilen Europas eine Art Endzeitstimmung. Manche rechneten mit der baldigen Loskettung des Satans. Augustinus und andere Kirchenlehrer erwarteten dagegen, dass entweder im Jahr 1000 oder im tausendsten Jahr nach Christi Geburt Jesus wiederkehren werde.

Obwohl der Millenarismus vielen Theologen als Ketzerei galt, unternahm die Kirche damals eine regelrechte Missionierungsoffensive, um, so dachte man, noch möglichst viele Seelen zu retten. Vor allem in Skandinavien und unter den noch nicht christianisierten der Westslawen waren damals erfolgreiche Missionare unterwegs. Kaiser Otto I. konnte König Harald von Dänemark zur Unterwerfung und zur Taufe bewegen. Das Stiften von Kirchen und Klöstern und wohltätige Spenden kamen damals im europäischen Adel so richtig in Mode, um Pluspunkte für das jüngste Gericht zu sammeln.

Sicherlich gab es gerade in abgelegenen Gegenden Gemeinden mit wenig Kontakt zur weiteren Christenheit, die von dieser Entwicklung nicht berührt wurden. Doch insgesamt dürfte das Jahr 1000 sehr präsent im Denken und Tun der Christen gewesen sein, zumindest derer, die in die Kirche gingen oder z.B. durch den Handel oder die aufkeimenden städtischen Gesellschaften mit fremdem Gedankengut in Berührung kamen. Millenaristische Ideen dürften den meisten Christen untergekommen sein, selbst wenn sie sie als Unsinn verwarfen.
 
Doku:
Daraus:
1000 ist eine magische Zahl. Auch wenn der Begriff Millennium erst im 12. Jh. aufkommt und saeculum (Jahrhundert) damals noch keinen Zeitraum von 100 Jahren bezeichnet. Den Menschen im Jahr 1000 war nicht bewusst, dass sie gerade das letzte Jahr des 10. Jh. erlebten.

Im Weiteren wird dann erklärt, dass die Menschen im Mittelalter einen anderen Bezug zu Zeit und Zahlen hatten, als wir es heute haben.

Die Frage, ob ums Jahr 1000 die meisten Menschen spontan sagen konnten, in welchem Jahr nach dem bei ihnen gültigen Kalender sie lebten, kann durchaus weltweit, unabhängig von der Religion und unabhängig vom Millenarismus gestellt werden.
Der französische Historiker Patrick Boucheron gibt in der Doku seine Meinung (für die europäischen Christen) dazu und, wenn ich es richtig verstehe, ist sein Fazit: "eher nicht". Mir leuchten seine Argumente ein, vermute aber, dass wir das für Normalsterbliche nicht so genau wissen, wie es in der Doku rüberkommt.

Möglicherweise wussten viele durch ihren Klerus, dass nun 1000 Jahre seit der Geburt oder dem Tod Jesu vergangen sind und darum demnächst etwas bevorstehen soll, aber ich bezweifle, dass sie genau wussten, wann das geschehen wird oder deswegen ihr Jahr 999 oder 1000 nannten.
 
Die Frage, ob ums Jahr 1000 die meisten Menschen spontan sagen konnten, in welchem Jahr nach dem bei ihnen gültigen Kalender sie lebten, kann durchaus weltweit, unabhängig von der Religion und unabhängig vom Millenarismus gestellt werden.
Freilich. Wer allerdings auf die besondere Bedeutung der Zahl 1.000 abstellt, wird sich jedoch auf die Christen beschränken müssen. Nur für sie war es tatsächlich das tausendste Jahr ihrer gültigen Zeitrechnung, die Juden waren hingegen schon im Jahr 4760, die Moslems im Jahr 390, die Buddhisten (je nach Tradition) im Jahr 1543 oder 1544 …
Der französische Historiker Patrick Boucheron gibt in der Doku seine Meinung (für die europäischen Christen) dazu und, wenn ich es richtig verstehe, ist sein Fazit: "eher nicht". Mir leuchten seine Argumente ein, vermute aber, dass wir das für Normalsterbliche nicht so genau wissen, wie es in der Doku rüberkommt.
Daher die Einschränkung in meinem Kommentar. Mit den Schriften eines Augustinus kam der Köhler aus dem Schwarzwald oder der Fischer aus den ostenglischen Marschen natürlich nicht in Berührung. Ich bin dennoch der Meinung, dass in der Mittel- und Oberschicht, wenn wir sie so nennen wollen, das Jahr 1000 sehr präsent war. Für meinen Geschmack scheinen zu viele Stiftungen und Konversionen unter Bezugnahme eben auf das Datum verbrieft zu sein, als dass ich mir vorstellen kann, es sei für die Gebildeten oder der Bildung Ausgesetzten bloß ein weiteres Jahr gewesen.
Möglicherweise wussten viele durch ihren Klerus, dass nun 1000 Jahre seit der Geburt oder dem Tod Jesu vergangen sind und darum demnächst etwas bevorstehen soll, aber ich bezweifle, dass sie genau wussten, wann das geschehen wird oder deswegen ihr Jahr 999 oder 1000 nannten.
Aber geht das eine nicht mit dem anderen Hand in Hand? Musste nicht wissen, welches Jahr man schrieb, wer immerhin wusste, dass seit der Geburt Jesu tausend Jahre vergangen waren? Hätte der gewöhnliche Europäer denn einen anderen Grund als die Offenbarung gehabt, der Zahl 1000 eine besondere Bedeutung beizumessen? Für Astrologen, Mathematiker und Mystiker mag die Zahl interessant gewesen sein, aber sonst?
 
Die Gelehrten zumindest wussten, dass sie im Jahr 1000 lebten. Oder auf der iberischen Halbinsel im Jahr 1038. inwieweit das Leutpriestern klar war, weiß ich nicht. Deren Ausbildung war ja nicht immer ganz gut fundiert - ich denke da gerade an einen Brief Winfrieds/Bonifatius‘(?) an Papst Zacharias(?) (freilich gut drei JhdtJhdt. früher), in dem der Verfasser sich beschwert, dass Priester nicht einmal die trinitarische Formel („im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“) richtig könnten. Und wenn es die plebani nicht wussten, woher sollten es die Leute wissen?
 
Lasst uns natürlich nicht vergessen, dass die abergläubischen Anbeter des vergessenen Idols namens Computer im Jahr 1999, bang im Herzen und den Zorn der Götter fürchtend, auf ein sogenanntes Jahr-2000-Problem schauten...

Es ist uns aus den Medien des Jahres 999 weitaus weniger an angstvollen Prophezeiungen überliefert.
 
Aber geht das eine nicht mit dem anderen Hand in Hand? Musste nicht wissen, welches Jahr man schrieb, wer immerhin wusste, dass seit der Geburt Jesu tausend Jahre vergangen waren? Hätte der gewöhnliche Europäer denn einen anderen Grund als die Offenbarung gehabt, der Zahl 1000 eine besondere Bedeutung beizumessen? Für Astrologen, Mathematiker und Mystiker mag die Zahl interessant gewesen sein, aber sonst?
Schwierig. Ich frage mich eben, wieweit und wo die Anno Domini (incarnationis) Zeitrechnung ins öffentliche Leben eingedrungen war, welche Ansicht der Theologen in Bezug auf den Ausgangspunkt der 1000 Jahre (Geburt oder Tod Jesu) verbreiteter war und was "1000 Jahre" für den einzelnen bedeuteten.

In Byzanz rechnete man noch lange in Anno Mundi (Jahr 1000 = 6508). Dort erwartete man den Weltuntergang ums Jahr 6500. Dafür waren aber mMn nicht unbedingt die 1000 Jahre nach der Geburt Jesu maßgebend, sondern etwas mit 12 x 532 = 6384 + 120 Jahre in der Offenbarung gewährte Schonfrist.
 
Ein ehemaliges Mitglied schrieb immer „mein Dozent hat gesagt...“, heute muss ich, so ungern ich das tu, das auch mal sagen: ein Dozent von mir (leider weiß ich nicht mehr genau wer), sagte mal in einer Nebenbemerkung, dass es im lateinischen Mittelalter um das Jahr 1000 herum eine verstärkte Weltuntergangsfurcht gegeben habe, die eben auch damit zusammenhing. Vielleicht war das auch auch anlässlich der Y2K-Furcht.
 
Hätte der gewöhnliche Europäer denn einen anderen Grund als die Offenbarung gehabt, der Zahl 1000 eine besondere Bedeutung beizumessen? Für Astrologen, Mathematiker und Mystiker mag die Zahl interessant gewesen sein, aber sonst?
Auch wer lesen konnte, hat die Jahreszahl mit der vorangestellten A.D. für Anno Domini in den Urkunden gelesen, und wusste in der Regel daher zumindest ungefähr, im welchem Jahr man sich befand.
 
Auch wer lesen konnte, hat die Jahreszahl mit der vorangestellten A.D. für Anno Domini in den Urkunden gelesen, und wusste in der Regel daher zumindest ungefähr, im welchem Jahr man sich befand.
Das ist ja eben der Punkt: um das Jahr 1000 könnten fast nur Mönche lesen. Das städtische Bürgertum war zu diesem Zeitpunkt noch sehr schwach entwickelt. Auch die ritterliche Epik und Poesie war zu diesem Zeitpunkt kaum vorhanden. Das entwickelt sich alles erst nach 1100.
 
Es gab doch z.B. Kauf- und andere Verträge, wo darunter z.B. stand: Gegeben am 6. Tag nach Johannis Anno Domini 987. Selbst wenn die Vertragspartner nicht lesen konnten, wurde ihnen das vorgelesen, bevor sie mit 3 Kreuzen unterschrieben.
 
Es gab doch z.B. Kauf- und andere Verträge, wo darunter z.B. stand: Gegeben am 6. Tag nach Johannis Anno Domini 987.
Ich habe dazu keinen Überblick, aber ein paar Stichproben in den Urkunden des Klosters St. Gallen ergaben ein anderes Bild:

Otkin und sein Sohn Thietpert vollziehen mit Abt Ymmo im Jahr 981 einen Tausch: Sie geben dem Kloster St.Gallen Eigengüter in Homberg.
Datiert nach der Regierungszeit Kaiser Ottos und Indiktion – Wikipedia . Ich finde kein Anno Domini.
St. Gallen, Stiftsarchiv, IV 503 (Privaturkunde). e-chartae

Zahlreiche andere Urkunden dort sind nach dem selben Muster datiert. Im 10. Jh. war das Anno Domini noch nicht oder nicht überall verbreitet.
 
Damit könntest du Recht haben.

Allerdings: In englischer Wikipedia steht, dass "Charlemagne promoted the usage of the Anno Domini epoch throughout the Carolingian Empire.", aber gleichzeitig wird da auch einschränkend gesagt: "Although Anno Domini was in widespread use by the 9th century, the term "Before Christ" (or its equivalent) did not become common until much later."

Damit kann ich wenig anfangen, denn entweder war Anno Domini im 9. Jahrhundert weit verbreitet – und dann wahrscheinlich auch im 10., was für die Bekanntheit und die Bedeutung des Jahre 1000 spräche – oder eben nicht.
 
Allerdings: In englischer Wikipedia steht, dass "Charlemagne promoted the usage of the Anno Domini epoch throughout the Carolingian Empire.", aber gleichzeitig wird da auch einschränkend gesagt: "Although Anno Domini was in widespread use by the 9th century, the term "Before Christ" (or its equivalent) did not become common until much later."

Damit kann ich wenig anfangen, denn entweder war Anno Domini im 9. Jahrhundert weit verbreitet – und dann wahrscheinlich auch im 10., was für die Bekanntheit und die Bedeutung des Jahre 1000 spräche – oder eben nicht.
Das sind doch zwei ganz unterschiedliche Dinge. Anno Domini ist die aktuelle Zeitrechnung, die man z. B. benötigt, um Urkunden zu datieren etc. oder über etwas zu sprechen, das vor 30 oder 40 Jahren passiert ist oder eben um vorhersagen zu können, wann eventuell die Apokalypse eintreten könnte. "Before Christ" bezieht sich auf die Zeiträume vor Jesu Geburt (bzw. vor dem angenommenen Zeitpunkt). Das benötigte man zur Zeit Karls nur, wenn man über Ereignisse sprach oder schrieb, die schon mindestens etwa 800 Jahre vorher passierten. Also n. Chr. vs. v. Chr..
 
Das ist ja eben der Punkt: um das Jahr 1000 könnten fast nur Mönche lesen. Das städtische Bürgertum war zu diesem Zeitpunkt noch sehr schwach entwickelt. Auch die ritterliche Epik und Poesie war zu diesem Zeitpunkt kaum vorhanden. Das entwickelt sich alles erst nach 1100.
Vielleicht sollte man sich also der Frage aus der umgekehrten Richtung nähern und zunächst mit einer Betrachtung beginnen, wer ein Interesse daran hatte, das gegenwärtige Jahr zu kennen (Schreib- und Lesekenntnisse sind hierbei natürlich nicht erforderlich). Davon ließe sich dann ein notwendigerweise größerer Personenkreis derer ableiten, die wissen konnten, welches Jahr man schrieb.
 
Konnte man überhaupt bis Tausend zählen? Oder bedeutete der Begriff für die Meisten eine unklare Zahl und wurde für ›sehr viel‹ verwendet (wie bspw. im {späteren} Wort »Tausendfüßler«)? Dann nämlich wird das ›Jahrgefühl‹ allgemein sehr vage gewesen sein, als würde man sagen, wir leben im Jahr »uiui-wer-weiß-schon-wieviel«.
 
Zuletzt bearbeitet:
Man zählt doch Jahre eigentlich nicht ab, sondern weiß einfach, in welchem Jahr man ist (oder weiß es eben nicht)? Auch Kinder, die noch nicht bis 1000 zählen können, wissen das häufig.

Ob dann damit ein konkretes Zeitbewusstsein verbunden war und ob diese Jahreszahl im Alltag eine Rolle spielte, ist dann nochmals eine andere Frage.
 
Konnte man überhaupt bis Tausend zählen?
wenn sich infolge von Querelen um das Jahr 1000 herum zwei Heere gegenüber standen, dann rätselten die sicherlich "hm, wie viele sind wir eigentlich und wie viele sind die? sind viele eigentlich mehr als mehr, oder sind mehr mehr als viele? und wie viele sind eigentlich die Tausendschaften in den Quellen, welche die Kuttenjungs alle Nase lang kopieren?" ;););)
 
Ist folgende Aussage zutreffend: Wer bis hundert zählen kann, kann auch bis tausend zählen? Der geistige Schritt von zehnmal hundert zum vollen Tausend erscheint mir nicht gerade groß.
 
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