Dass Bildung wichtig für die Juden war und ist – wir haben eine jüdische Familie als unmittelbare Nachbarn, die einen unheimlichen Druck auf ihre Kinder erzeugten, gut in der Schule zu sein –, ist Juden im 19. und 20. Jahrhundert, als Bildung zum Geldwertenvorteil wurde, zum Verhängnis geworden, wie vorher die Geldgeschäfte, zu denen sie gezwungen wurden, weil ihnen alle anderen Berufe durch Satzungen der Zünfte (sie nahmen nur Christen auf) verboten waren.
Eine der treibenden Kräfte für Pogrome war in beiden Fällen Neid - für Christen eine der 7 Todsünden.
Ich würde auch mit dieser Darstellung nicht unbedingt konform gehen wollen.
Die Mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pogrome (ich rede jetzt von den spontanenn Gewaltaktionen aus der Bevölkerung heraus, nicht von durch die Obrigkeit geplanten Vertreibungsaktionen, wie es sie in England oder auf der iberischen Halbinsel gegben hat), korrespondierten in der Regel mit realen Katastrophenphänomenen (Seuchen, Missernten) oder besonderen Formen religiösen Eifers (wie etwa im Zusammenhang mit den Kreuzzügen im Rheinland, Ritualmordlegende).
Für verzweifelte Schuldner, die durch die Verteibung oder Ermordung ihrer Gläubiger einen Ausweg aus der eigenen Miesere sahen, mag das ein Grund gewesen sein, sich an solchen Gewaltausbrüchen kalkuliert zu beteiligen.
Und sicherlich haben die Kreditgeschäfte, die viele Juden (bei weitem nicht alle, auch wenn sie weder Land besitzen, noch zünftige Handwerker werden durften, was im Übrigen nicht auf jedes Gewerbe zutrifft, gab es durchaus andere Möglichkeiten sich zu verdingen, bei weitem nicht jeder Jude war Geldverleiher) betrieben sie bei Teilen der Bevölkerung neben der religiösen Anderartigkeit unbeliebt gemacht.
Wobei man hier religiöses und wirtschaftlichs Motiv nicht ganz klar trennen kann, weil das christliche Zinsverbot ja durchaus auch eine religiöse Komponente war, die da mitspielte.
Es dürfte allerdings, den meisten Zeitgenossen des Mittelalters und der frühen Neuzeit durchaus aufgefallen und bekannt gewesen sein, dass nur ein Teil der jüdischen Bevölkerung Geldverleih und verwandte Geschäfte betrieb und nur ein geringer Teil davon tatsächlich so erfolgreich wurde, dass er in der Lage war in irgendeiner Form beneidenswerten Reichtum anzuhäufen.
Die tatsächlich großen Player im Bankengeschäft würden spätestens ab dem Spätmittelalter Bankiers und Handelsherren, wie die Fugger oder die Medici. Das waren keine Juden, sondern christliche Geschäftsleute)
Die meisten jüdischen Geldverleiher blieben auf Geschäfte mit Kleinkrediten berschränkt, mit denen sie zwar über die Runden kommen, in der Regel allerdings keinen exorbitanten Reichtum anhäufen konnten.
Die Geldgeschäfte oder Gewinne daraus wird man nicht als Auslöser für die mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Pogrome betrachten können (jedenfalls in aller Regel nicht).
Wäre das auslösende Motiv dass die Handelnden leitete hier reiner Sozialneid auf angehäuften Reichtum, Verzweiflung mit dem Rücken zur Wand stehender Schuldner oder religiöse Ressentiments wegen des Zinsverbots gewesen, dann wären den Pogromen nicht auch Juden zum Opfer gefallen, die mit Geldegschäften in ihrem Leben noch nie etwas zu tun gehabt hatten und die in Teilen offensichtlich zu den verarmten städtischen Unterschichten gehörten, sich z.B. als Tagelöhner verdingten und weder materiell etwas hatten, auf das man neidisch hätte sein können, noch einer Tätigkeit nachgingen, die aus religiösen Gründen als geächtet galt.
Übrigens, wenn der Auslöser für Pogrome die Tätigkeit des Geldverleihens, Gewinne daraus, oder Schulden gewesen wäre, hätte es auch christliche Geldverleiher treffen müssen, Seit dem Spätmittelalter waren verstärkt auch "lombardische Geldverleiher/Bankies" in dieses Geschäft eingestigen, weil die sich für das Zinsverbot nicht mehr interessierten, spätestens ab dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit wird man sagen können, dass sich das mit dem Zinsverbot sukzessive erledigt hatte und allerorten in Europa christlich Akteure ins Bank- und Finanzwesen einstigen.
Damit taten jüdische Geldverleiher im Grunde nichts exklusives mehr was sich in irgendwie anstößiger Weise von ihren Christlichen Kollegen abgehoben hätte, Pogrome fanden allerdings weiterhin statt.
Ich würde konstatieren wollen, dass Mittelalterliche und frühneuzeitliche Pogrome kein Sozialneid-Phänomen waren, dagegen spricht schon, dass es Personen traf, die offensichtlich sozial nicht zu beneiden waren, weil sie nicht nur im Hinblick auf den sozialen Status, sondern auch materiell den Unterschichten angehörten, sondern dass das in der Regel mit Katastrophenereignissen korrespondierte, derer es reichlich gab, die sich die Bevölkerung nicht erklären konnte und für die irgendein Verantwortlicher gesucht wurde.
Dabei ist meiner Meinung nach in Rechung zu stellen, dass das keine reine Suche nach Sündenböcken und Taten aus persönlichen Rachemotiven ex-post war, sondern, dass die Akteure sich oft innerhalb eines Katastrophenzustands befanden und neben dem Bedürfnis nach Vergeltung vor allen Dingen auch Angst vor dem, was da möglicherweise noch kommen würde, wenn man Verantwortliche (bzw. solche, die man dafür hielt) nicht ausmachen konnte.
Und das unterscheidet den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenhass und die daraus resultierenden Pogrome ganz massiv von dem, was ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts passierte.
Die europäischen Gesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts waren post-aufklärerische Aufstiegsgesellschaften, die im Grunde keine Katastrophen alteuropäischen Ausmaßes mehr erlebten.
Seit den "hungry fourties" hatte es bis zum 1. Weltkrieg (ich klammere die Zwischenkriegszeit in Europa jetzt bewusst aus, weil da, wie
@silesia richtig anmerkte noch andere Faktoren eine Rolle spielten) keine Versorgungsprobleme der Bevölkerungen mehr gegeben, die für größere Bevölkerungsgruppen tatsächlich existenzgefährdend gewesen wären.
Die Lebensmittelpreise fielen sukzessive immer weiter, durch verbesserte Anbaumethoden und der Bau von Eisenbahnen, Kanälen, gut ausgebauten Chauseén ermöglichte es mittlerweile lokale Verknappungen durch Zulieferung von Überschüssen aus anderen Gebieten Engpässe zu bezahlbaren Preisen zu überbrücken, so dass weder unzureichende Produktion, noch Spekulation und Preistreibere bei Lebensmitteln durch Zurückhalten von Teilen der Ernte durch die Bauern mehr eine Bedrohung darstellte.
Seuchen waren durchaus nicht ausgerottet, Europa wurde bis zum 1. Weltkrieg immer wieder von der Cholera und anderen Krankheiten betroffen, aber man wusste mittlerweile um Krankheitserreger und hielt dass nicht mehr für eine göttliche Strafe oder das diabolische Werk irgendwelcher sinistrer Gruppen.
Die mehr oder weniger weitgehende Ausrottung der Pocken hatte ein Beispiel geliefert, dass man Krankheiten duchaus beikommen konnte, so dass sie weniger problematisch waren und gerade seit der Jahrhundertwende machte neben der Medizin auch die chemische Industrie, große Fortschritte, so dass Medikamente in immer größerem Stil produziert werden konnten und immer erschwinglicher waren.
Man hatte inzwischen auch die hygienischen Probleme in den Städten erkannt und begonen große Teile der verbauten, engen historischen Bausubstanz durch Bauten zu ersetzen, die diesen Problemen wenigstens teilweise Abhalf (auch wenn die Mietskasernen in einigen Großstädten nach wie vor ein Problem waren, aber auch von diesen ging man zunehmend ab), man arbeitete daran, die Wasserversorgung zu überarbeiten und vor allem auch Kanäle zu bauen und die Abfall- und Abwasser-Entsorgung der Städte zu verbessern.
Am Ende des 19. Jahrhunderts ging es mit den Löhnen der arbeitenden Bevölkerung im Besonderen der Industriearbeiterschaft bergauf, Kinderarbeit war in ihren schlimmsten Formen abgeschafft oder stark reguliert, es gab erste gesetzliche Initiativen, die auf den Aufbau eines modernen Sozialstaates hinausliefen, die Bevölkeerung war weitgehend alphabetisiert und konnte bei den Problemen, die sie hatte nunmehr auf das Wissen der Bibliotheken zurückgreifen, es gab weitgehende Rechtssicherheit, es gab soziale Aufstiegsmöglichkeiten zunehmend auch für Personen, die nicht aus den traditionellen Oberschichten kamen, Europa (abgesehen vom Russland, vom Osmanischen Reich und vom Balkan), hatte am Ende des 19. Jahrhunderts drei Dekaden des Friedens hinter sich, eine vergleichsweise lange Zeit, der noch anderthalb Jahrzehnte des Friedens folgen sollten.
Ohne die gesellschaftlichen Zustände am Ende des ausgehenden und am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa glorifizieren zu wollen, diese Gesellschaften hatten keine existenzbedrohenden Probleme mehr.
Eigentlich ging es gesamtgesellschaftlich überall vorwärts.
Natürlich gab es gab es auch Verlierer dieser Umwälzung. Kleinbauern und kleine Handwerker, die mit den Produktionsmethoden der neuen Industrien und der Großlandwirtschaft und der ausländischen Konkurrenz (vor allem Landwirtschaft) nicht mithalten konnten.
Adlige, die nicht begreifen konnten, dass Abstammung und Landbesitz nicht länger die allein dominierenden Krieterien waren, wenn es um Sozialprestige und politische Möglichkeeiten ging oder die verarmten, weil sie es nicht verstanden ihre Ländereien nach kommerziell-kapitalistischen Gesichtspunkten zu bewirtschaften etc.
Aber für die Gesellschaften an und für sich, lief alles aus weitere Verbesserungen hinaus. Um so unbegreiflicher, der (in Teilen absurde) Kulturpessiemismus, der sich bei den radikalen Nationalisten und sich formierenden Antisemiten bahnbrach und der mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung wirklich nichts zu tun hatte.